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Der Erzähler
(zu alt für eine Antwort)
Alexander Erlich
2003-11-26 10:48:18 UTC
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Guten Tag,

Ich besuche die 10. Klasse eines Gymnasiums und wir nehmen in Deutsch gerade
das Interpretierens des Erzählers durch.

Ich habe dazu folgende Fragen:

Unser Buch unterscheidet die Erzählformen Er/Sie- und Ich-Form. Dabei sollen
wir uns bei bestimmten Geschichten (Erich Frieds "Der Präventivschlag",
Walter Jens' "Bericht über Hattington") entscheiden, in welcher Form diese
Geschichten geschrieben sind. Beide sind Innere Monologe; d.h. in Frieds
Geschichte gibt es einen Satz und in Jens' gar keine wörtliche Rede. Wie
kann man am Besten entscheiden, welche Form vorherrscht?

Die Geschichte "Bericht über Hattington" schildert den Ausbruch eines
Schwerverbrechers aus dem Gefängnis und die allgemeine Angst der Bevölkerung
in einer Kleinstadt namens Knox. Nachdem sich die Leute abgeregt haben,
geschehen zwei Morde, so dass wieder allgemeine Panik ausbricht, bis dann
die Bürger tätig werden, so dass die Leiche des Schwerverbrechers Hattington
im See gefunden wird.

Dies erzählt ein Bürger, der - soviel weiß man über ihn - 1) sich in eine
Bürgerwehr einschließt und 2) ziemlich oft angerufen und aufgerufen wird,
vVerdächtige zu boykottieren.Somit handelt er nur wenig mit, erzählt eher
über andere Leute.

Wie soll ich nun die Erzählform beurteilen???

Und noch was: habe ich recht, dass der Erzählstandort sich ändert, wenn sich
die Erzählform ändert? Es scheint logisch, denn wenn diese gewechselt
werden, wird doch auch die Position gewechselt, sozusagen von der
olympischen, alleswissenden Erzählweise zur Mitten-im-Geschehen-Variante.
Ist das so richtig?


Ich wäre euch auch sehr dankbar, wenn ihr mir ein Paar Quellen nennt (am
besten links) zu:
Erzählform, Erzählerstandort, Erzählverhalten, Erzählhaltung und zu den
Arten der Darbietung, die der Erzähler verwendent.

Vielen Dank im Voraus!

MfG,
Alexander Erlich
Florian Edlbauer
2003-11-27 10:13:17 UTC
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Post by Alexander Erlich
Unser Buch unterscheidet die Erzählformen Er/Sie- und Ich-Form.
Das ist eine noch sehr einfache Unterscheidung, aber für den Anfang
sicher sinnvoll. Allerdings - 10. Klasse? Naja.
Post by Alexander Erlich
...
Dies erzählt ein Bürger, der - soviel weiß man über ihn - 1) sich in eine
Bürgerwehr einschließt und 2) ziemlich oft angerufen und aufgerufen wird,
vVerdächtige zu boykottieren.Somit handelt er nur wenig mit, erzählt eher
über andere Leute.
Wie soll ich nun die Erzählform beurteilen???
Vorbehaltlich meiner Unkenntnis der Erzählung: Ich vermute mal, dein
Lehrer möchte hören, dass die erste Person fließend zur dritten
übergeht, je weniger der Erzähler von sich spricht - und je mehr über
andere (oder eben über "Dritte" :o).

Grundsätzlich hast du das Problem offensichtlich erkannt. Gut so. Was
du hier in der Gruppe vorgetragen hast, kannst du doch auch deinem
Lehrer so aufschreiben, oder?
Post by Alexander Erlich
Ich wäre euch auch sehr dankbar, wenn ihr mir ein Paar Quellen nennt (am
Erzählform, Erzählerstandort, Erzählverhalten, Erzählhaltung und zu den
Arten der Darbietung, die der Erzähler verwendent.
http://www.google.de/search?q=erz%C3%A4hlperspektive

Gruß,
Florian
Peter Stoll
2003-11-27 11:56:05 UTC
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Post by Alexander Erlich
Unser Buch unterscheidet die Erzählformen Er/Sie- und Ich-Form.
Es ist zwar lange her, dass ich das ernsthaft betrieben habe;
trotzdem: Ein klassischer Ansatz ist es, zwischen drei Haltungen zu
unterscheiden:

a) auktoriales Erzählen

Der allwissende Erzähler mit dem 'olympischen' Überblick; kennt das
Innenleben sämtlicher Personen; kommentiert usw.. Mitunter macht er
sich als eigenständige Person sehr deutlich bemerkbar; d.h., der Leser
bekommt sehr stark den Eindruck, dass diese Geschichte von einer
bestimmten Person erzählt wird. Der auktoriale Erzähler kann sich
sogar mit 'ich' einbringen. (fiktives Beispiel: "Ich hoffe meine Leser
nicht zu langweilen, wenn ich sie jetzt mit einer zunächst wenig
interessant wirkenden Person bekannt mache; sie wird aber im Laufe
unserer Geschichte eine bedeutende Rolle spielen usw."

b) personales Erzählen

in der dritten Person; aber aus dem Blickwinkel nur *einer* Person;
zugänglich ist nur das Innenleben dieser einen Person. Wenn diese
Person X ist, kann es dann nie heißen: "Y dachte, dass ...",
höchstens: "Y schien zu denken, dass ..." [d.h., X ist der Meinung,
dass Y denkt, dass ...]In Romanen ist es übrigens beliebt, dass
mehrere personale Perspektiven kombiniert werden, z.B. Kapitel 1 aus
der Perspektive von Person X, Kapitel 2 aus der von Person Y, in
Kapitel 3 wieder X, in Kapitel 4 dann Z usw. Häufiger Einsatz von
erlebter Rede. Im streng personalen Erzählen sollte nicht von außen
kommentiert werden: "X war der Meinung, er könne seine Freundin
betrügen, wann immer er Lust dazu habe. Eine solche Haltung ist ja
heute bedauerlicherweise weit verbreitet." Der zweite Satz verlässt
die personale Perspektive und urteilt aus der Perspektive eines
auktorialen erzählers.

c) Ich-Erzählen

auch aus dem Blickwinkel nur einer Person, eben der, die sich mit
'ich' bezeichnet. Dieses Ich kann die Hauptfigur des Geschehens sein,
aber auch eher eine Randfigur, die vorwiegend beobachtet und
referiert, was in ihrer Umwelt vorgeht; dazwischen gibt es viele
Abstufungen. Beliebt scheint mir das Ich als freund / enge
Kontaktperson des Protagonisten (werden die
Sherlock-Holmes-Geschichten nicht von Watson erzählt?).

Ein klassischer Text für diese Erzählhaltungen ist Franz Stanzel,
Theorie des Erzählens (zuletzt 2001 aufgelegt, in allen größeren
Bibliotheken vorhanden).

Wenn ich darüber nachdenke, könnte ich mir noch eine Erzählhaltung
vorstellen, die den Eindruck völliger Objektivität von außen zu
erwecken versucht - beschreiben, was eine Kamera sehen würde;
registrieren, was Personen sagen; aber keinerlei Widergabe von
Gedanken; letztlich natürlich eine Scheinobjektivität; weil durch
Auswahl des Beobachteten, Wortwahl usw. untergraben. Vielleicht gibt's
dafür auch einen Fachausdruck, den ich jetzt vergessen habe.

Peter
Marius Fraenzel
2003-11-27 13:00:35 UTC
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Post by Peter Stoll
Wenn ich darüber nachdenke, könnte ich mir noch eine Erzählhaltung
vorstellen,
Und wenn man weiter nachdenkt, kann man sich noch ganz viele andere
Variationen vorstellen, weshalb Stanzel die drei typischen
Erzählformen auf einem Typenkreis anordnet, der fließende Übergänge
von jeder Erzählform zu jeder der beiden anderen beschreibbar macht.

Der Typenkreis ist in der "Theorie des Erzählens" hinten abgebildet
und mit Beispielen expliziert.

Zwischen er "Ich"- und einer "Er/Sie"-Erzählperspektive zu
unterscheiden (wie es das Ausgangsposting berichtet) halte ich,
gelinde gesagt, für nicht ganz ausreichend. Das Kriterium "von wem
erzählt wird" stammt von Petersen und sollte sich in der Praxis der
Analyse einfach als Unfug erweisen.

Gruß, Marius
--
www.fraenzel.de
Michael Pronay
2003-11-28 16:04:18 UTC
Permalink
Der auktoriale Erzähler kann sich sogar mit 'ich' einbringen.
(fiktives Beispiel: "Ich hoffe meine Leser nicht zu langweilen,
wenn ich sie jetzt mit einer zunächst wenig interessant
wirkenden Person bekannt mache; sie wird aber im Laufe unserer
Geschichte eine bedeutende Rolle spielen usw."
Das kommt bei Doderer recht häufig vor. Der verbündet sich
manchmal sogar mit seinem Leser gegen unsympathische Figuren.

M.

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